Mittwoch, 15. Februar 2017

Der Polizeistreik in Espirito Santo - Grundlegende Informationen und Hintergründe

Vom 4. bis zum 11. Februar 2017 legte ein Streik der Polícia Militar in Espirito Santo große Teile des öffentlichen Lebens lahm.
Insgesamt wurden in der Zeit des Streikes 137 Menschen ermordet, das Bundesland, insbesondere die großen Städte wirkten an einigen Tagen wie ausgestorben. Es gab Überfälle, Plünderungen, Diebstähle, Fälle von Selbstjustiz, viele Gerüchte und ein von Angst beherrschtes Klima.

Informationen über das Bundesland und seine Hauptstadt:

Das brasilianische Bundesland Espirito Santo ist ein kleines Bundesland, nördlich von Rio de Janeiro gelegen. Im Westen grenzt es an Minas Gerais und im Norden an Bahia. Espirito Santo wird der Großregion „Sudeste“ zugerechnet, die außerdem die Bundesländer Minas Gerais, Rio de Janeiro und Sao Paulo umfasst.
Espirito Santo hat insgesamt etwa vier Millionen Einwohner. Wichtige Wirtschaftsbereiche im Bundesland sind die Landwirtschaft, wobei vor allem Zuckerrohr, Kokosnüsse und Kaffee angebaut werden. Außerdem haben die Viehzucht und der Bergbau bedeutenden Einfluss auf die Wirtschaft Espirito Santos. In den letzten Jahren ist die Marmor- und Granitproduktion stark gewachsen.
Das Bruttoinlandsproduktpro Kopf im Jahr 2014 betrug 33 148 Reais (ca. 10 000 Euro), damit liegt das Bundesland in der Liste der anderen Bundesländer auf Platz fünf.

Die Hauptstadt des Bundeslandes, Vitória, ist eine für brasilianische Verhältnisse eher kleine Stadt mit ca. 360000 Einwohnern. Der GroßraumVitoria, der außerdem aus den Städten Vila Velha, Cariacica und Serra besteht, hat aber über 1,7 Millionen Einwohner.
Eigentlich geht in der Hauptstadt alles einen für brasilianische Verhältnisse geordneten Weg und die die Capixabas, so werden die Einwohner Vitórias genannt, sind stolz auf ihre Stadt, auf die Wirtschaft, aber auch auf die subjektiv höhere Sicherheitslage, als zum Beispiel in Rio de Janeiro.

In Rankings über die Lebensqualität schneidet Vitória im Vergleich mit den anderen brasilianischen Hauptstädten regelmäßig sehr gut ab, noch im September 2016 führte sie die Listeder 27 brasilianischen Hauptstädte an.
Die Stadt liegt direkt am Meer und das Zentrum liegt auf einer Insel. Vitória wird oft kleines Rio genannt, weil es Rio landschaftlich ähnelt, neben Hügeln und Felsen, die direkt am Meer liegen, gibt es einige kleinere Inseln. Außerdem erinnert die Brücke Terceira Ponte, die übers Meer nach Vila Velha führt an die Brücke Rio - Niterói.
Außerdem ist Vitoria eine bedeutende Hafenstadt. Neben dem Containerhafen im Zentrum, gibt es den Industriehafen Tubarão, des multinationalen Konzerns Vale S.A.(früher Companhia Vale do Rio Doce - CVRD) der auch maßgeblichen Einfluss auf die Wirtschaft Vitorias hat.

Obwohl das Wasser des wichtigsten Strandes Vitórias (Praia de Camburi) meist zum Baden ungeeignet ist, weil der Industriehafen direkt am Ende des Strandesliegt, ist er bei den Bewohner der angrenzenden Viertel sehr beliebt und wird gerne für sportliche Aktivitäten genutzt, aber auch um in der Sonne zu liegen, zum flanieren oder um spätabends noch in Bars und Restaurants auszugehen. Normalerweise ist der Strand im Sommer bis ca. Mitternacht sehr belebt.

Vitória war auch vor dem Polizeistreik keine sichere Stadt, aber wie überall in Brasilien ist man daran gewöhnt, Nachrichten von Toten und Überfällen zu hören, trotzdem nimmt das Leben seinen geregelten lauf. Oft betreffen diese Nachrichten die eher ärmeren Viertel in den Umlandgemeinden. Immer wieder hört man von der relativ hohen Mordrate. Sie lag in Espirito Santo 2014 bei 39,3Morden pro 100 000 Einwohnern. Das ist der höchste Wert der brasilianischen Region Südosten.
Dabei ist auffällig, dass Serra (72,4) Cariacica (57,5) und Vila Velha (49,2) besonders hohe Raten aufweisen. In den letzten Jahren waren die Zahlen für Espirito Santo aber rückläufig.

Alles in allem kann man Vitória trotz aller Probleme als lebenswerte Stadt bezeichnen und in der Bevölkerung hat man nicht damit gerechnet, dass die Situation in so kurzer Zeit dermaßen eskalieren könnte.

Was ist passiert?

Die Polícia Militar, (in der Übersetzung Militärpolizei) begann am Samstag, dem vierten Februar zu streiken. Eigentlich ist es angehörigen der Militärpolizei verfassungsmäßig verboten zu streiken, das Verbot wurde aber dadurch umgangen, indem offiziell nicht die Polizistinnen und Polizisten streikten. Stattdessen wurden die Ausgänge der Polizeiwachen von Verwandten der PolizistInnen besetzt. Dadurch wurde es ihnen offensichtlich unmöglich gemacht, ihre Arbeit zu verrichten. Trotzdem wurde der Streik nach kurzer Zeit von Gerichten als illegal eingestuft und auch der oberste Kommandant der Militärpolizei Espirito Santos hat die Polizisten dazu aufgerufen, ihren Dienst wieder anzutreten.

Zum besseren Verständnis: Die brasilianische Polícia Militar ist keine Militärpolizei im eigentlichen Sinne (im Gegensatz zur Polícia do Exército).
Sie ist eine Gendarmerie in den einzelnen Bundesstaaten, die für die öffentliche Sicherheit verantwortlich ist und die Aufgaben einer allgemeinen Polizei inne hat. Sie ist dem Gouverneur unterstellt, aber militärisch organisiert. In ganz Espirito Santo gibt es an die 10 000 Militärpolizisten.

Der Verdienst eines Angehörigen der Polícia Militar in Espirito Santo liegt weit unter dem Durchschnitt der anderen Bundesstaaten. Derzeit liegt das Einstiegsgehalt eines Polizisten bei ca. 2600 Reais (ca. 780 Euro) brutto. Außerdem wurden die Gehälter seit 2010 nicht mehr erhöht und seit 2014 nicht mal an die Inflationsrate (in den letzten fünf Jahren lag die Inflation in Brasilien jährlich zwischen sechs bis zehn Prozent) angepasst. Darüber hinaus hat der Beruf grundsätzlich kein besonders hohes Ansehen und ist auch oft gefährlich.

Was fordern die Angehörigen der Polizisten?
Die wichtigste Forderung ist, die Gehälter zu erhöhen und die Anpassung an die Inflationsrate vorzunehmen. Aber auch Nachtdienstzuschläge und Gefahrenzulagen werden verlangt.
Für Angehörige der Militärpolizei in Espirito Santo gibt es keine eigene private Krankenversicherung, obwohl der Beruf gefährlich ist. (In größeren brasilianischen Firmen ist eine private Krankenversicherung oft Teil der Bezahlung)
Außerdem wird der schlechte Zustand der Ausrüstung bemängelt. Anscheinend werden nicht alle PolizistInnen mit schusssicheren Westen ausgestattet und der Zustand der Streifenwagen ist in schlechtem Zustand, oft fehlen die Mittel, um die Wägen ausreichend zu betanken.
Darüber hinaus werden auch vorgesehene Beförderungen seit längerer Zeit nicht mehr durchgeführt.

Wer sind die Demonstrantinnen?
Hauptsächlich demonstrieren Frauen für die besseren Arbeitsbedingungen der PolizistInnen. Es sind die Ehefrauen, Mütter, Freundinnen und Schwestern der Polizistinnen und sie organisieren sich über soziale Netzwerke, hauptsächlich über Whatsapp Gruppen. Die Demonstrantinnen campieren vor den Eingängen vieler Polizeiwachen in ganz Espirito Santo und verhindern damit, dass die Polizistinnen ihre Arbeit versehen. Angeblich sind kaum Angehörige von höherrangigen Polizisten unter den Protestierenden.




Bevölkerung:
Die Bevölkerung steht den Ereignissen großteils machtlos gegenüber. In den ersten Tagen überschwemmen Videos und Bilder von gewalttätigen Übergriffen, Schusswechseln, Plünderungen, usw. die sozialen Netzwerke.
Die Rufe nach Selbstjustiz werden lauter, es ist gängige Meinung, dass sich die Bevölkerung mit Waffen selbst schützen sollte, wenn die Polizei dazu nicht in der Lage ist. Viele Gerüchte und Übertreibungen machen die Runde, die Lage ist aber wirklich außer Kontrolle und wer nicht außer Haus muss, bleibt zu Hause.

Allein am 6. Februar wurden 40 Menschen ermordet, am 7. noch immer 22. Im Vergleich dazu wurden im Jänner durchschnittlich vier Menschen pro Tag ermordet. Die Opfer sind zu 90 % männlich, der Großteil zwischen 17 und 20 Jahre alt und durch eine Schusswaffe ermordet.
Die Anzahl der Todesopfer erreichte ein so großes Ausmaß, dass sogar die Kühlräumlichkeiten der Gerichtsmedizin an ihre Grenzen kamen.

Mittlerweile gibt es einen Bericht von CBN, dass ein großer Teil der Toten auf illegale Todesschwadrone der Polizei zurückgehen könnte. Die brasilianischen Bundespolizei Polícia Federal hat Ermittlungen eingeleitet.
Derartige Gruppierungen könnten den Streik ausgenützt haben, um sich an Rivalen zu rächen. Es wäre nicht das erste Mal, dass in Espirito Santo derartige Gruppierungen ihr Unwesen treiben: So war die paramilitärische LeCocq, die während der Zeit der Militärdiktatur in Rio gegründet wurde, bis in das Jahr 2005 in Espirito Santo aktiv.

Darüber hinaus wurden im Zeitraum des Streikes über 600 Fahrzeuge gestohlen, (nur am Montag dem 6. Februar wurden 200 KfZ gestohlen, im Durchschnitt 20 täglich) und 300Geschäfte geplündert.

Geschäfte, Schulen und Krankenhäuser blieben teilweise geschlossen. Der öffentliche Busverkehr kam Großteils zum erliegen, nachdem am 5. Februar Busse in Brand gesetzt wurden und später Busfahrer bedroht wurden, den Verkehr einzustellen, da ansonsten wieder Brandanschläge verübt würden.

Viele Städte in Espirito Santo wirken zu Beginn der Streikwoche wie ausgestorben, Angst und Ratlosigkeit greifen um sich. In den sozialen Netzwerken verschaffen sich die Bewohner Gehör.

Der Hashtag #espedesocorro (Espirito Santo bittet um Hilfe) wird dazu verwendet um Meinungen kundzutun, aber auch um Videos und Bilder zu teilen. Die großen Medien berichten anfangs extrem zurückhaltend, oder gar nicht über die Vorkommnisse, die Bewohner fühlen sich vergessen. Auch der brasilianische Präsident Michel Temer meldet sich erst nach einer Woche zu Wort.
Ein Kritikpunkt der Bevölkerung ist auch, dass es offensichtlich gab es keinen Notfallplan für den Fall eines Streikes gab.

Erst ab Montag (6.2.) greifen die großen Medien des Landes die Ereignisse verstärkt auf und es wird noch am selben Tag beschlossen das Heer und einige Spezialeinheiten nach Vitória zu schicken.

Später am Abend kursieren bereits Bilder von bewaffneten Soldaten, die Leute festnehmen, Panzern und militärischem Gerät in den Straßen von Espirito Santo. Wie immer werden die besseren Viertel der Stadt bevorzugt, in den ärmeren und ländlicheren Bereichen dauert es länger, bis das Heer einmarschiert.

Politischer Hintergrund
Der aktuelle Gouverneur Espirito Santos, Paulo Hartung wurde 2014 zum dritten mal in das Amt gewählt. Er ist seit kurzem aus der Partei des brasilianischen Präsidenten Michel Temer PMDB ausgetreten. Seine Karriere hat er aber in der PMDB begonnen, um danach eines der Gründungsmitglieder der PSDB zu werden, außerdem war er danach auch Mitglied der Parteien PSB und PPS, um 2005 wieder in die PMDB einzutreten.

Seit 2015 fährt Hartung eine strenge Haushaltspolitik. Viele öffentliche Ausgaben wurden eingefroren, und die Mittel für den Haushalt 2016 um 1,3 Milliarden Reais (ca. 390 Millionen Euro) gekürzt.

Der Gouverneur war während des Ausbruchs der Sicherheitskrise in São Paulo wegen eines Blasentumors in Behandlung und kehrt erst am 7. Februar nach Espirito Santo zurück.

Nach seiner Rückkehr macht die Regierung alles, um nicht den Eindruck zu erwecken, sich von den DemonstrantInnen erpressen zu lassen. So wurden mittlerweile über 700 PolizistInnen des Aufstandes angeklagt und deren Gehälter eingefroren. Es wird offensichtlich versucht, der Bevölkerung zu vermitteln, dass allein die DemonstrantInnen an dem Ausnahmezustand Schuld sind und diese dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

Außerdem wurde von Paulo Hartung angekündigt, die Entstehung der Demonstrationen restlos aufklären zu wollen und die Polícia Militar weitgehend zu reformieren. Außerdem sollen die weit über 100 Morde restlos aufgeklärt werden.



Aktuelle Lage

Derzeit sieht es so aus, als ob die Behörden die Lage zum großen Teil im Griff hätten, zumindest in den größeren Städten und in den besseren Lagen. Insgesamt patrouillieren über 3000 Männer der Armee in den Straßen Espirito Santos und ein Teil der Polizei versieht wieder ihren Dienst. Einige Polizistinnen wurden sogar mit dem Helikopter aus dem Polizeirevier „befreit“, um so eine Konfrontation mit den Angehörigen zu vermeiden, die weiterhin vor den Ausgängen campieren.

Die Regierung hat große Angst davor, dass die Streiks auf andere Bundesländer übergreifen, so haben Angehörige der PolizistInnen in Rio de Janeiro bereits damit begonnen Zugänge zu Polizeiwachen zu blockieren.
Landesweit wurden Militärs in Alarmbereitschaft versetzt, um notfalls rasch reagieren zu können.

Es stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung grundlegende Änderungen in der inneren Sicherheit fordern wird, oder ob sie sich weiterhin mit der offensichtlich vorhandenen Gefahr abfindet und das Leben seinen gewohnten Lauf nimmt.


Quellen:

Donnerstag, 1. Mai 2014

Exklusion durch Distanz und die Ablehnung der Stadt



Der Artikel von Fernando Luiz Lara handelt von abgeschlossenen Wohnanlagen und seinem Vorschlag der Ablehnung der traditionellen Stadt. Er stellt aber auch die notwendige Verbindung des Themas mit den Protesten “passos livre” her, von denen die Straßen seit der ersten Juniwoche eingenommen wurden.

Die Verbindung besteht darin, dass die selbe Logik, die geschlossene Wohnanlagen fördert, auch einen Großteil der Brasilianer, für viele Stunden täglich, zu einem teuren und ineffizienten öffentlichen Transport verurteilt: die Logik der Exklusion durch Distanz.

Von der Ankunft der Portugiesen bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, hat diese Logik in eine einzige Richtung funktioniert, die besagte: je näher am Zentrum (wo immer die beste Infrastruktur konzentriert war), desto teurer.

Während vieler Jahrhunderte, wurden die Ärmeren an die Peripherien der Stadt gedrängt, wo der Grund billiger war, oder auf die Hügel und in überschwemmtes Land, das deswegen keinen Wert hatte, auch wenn es näher am Zentrum war. Die induzierte (und deshalb verfrühte) Vertikalisierung, die in Rio und in São Paulo seit den 1940er Jahren eingetreten ist, - Copacabana und Higienópolis zum Beispiel- war eine Art, um teuren Raum zu schaffen, der noch nahe an den Zentren der jeweiligen Städte war, wo alles Wichtige passierte. Das Wachstum der Automobilindustrie in Brasilien in den 1950er Jahren beginnt diesen Zustand zu ändern und ermöglicht eine beginnenden Suburbanisierung, wie in Nordamerika. Klassische Beispiele dafür sind Morumbi und São Conrado.

Ab den 1970er Jahren wurden durch den Bau von Autobahnen im Rahmen des „primeiro PAC“ (Wachstumsprogramm, Anm.) der Bau der ersten geschlossenen Wohnanlagen erleichtert, die bekannteste davon Alphaville de Barueri. Diese Zeit wurde auch die Zeit des brasilianischen Wunders genannt. Es ist interessant zu verstehen, dass der Vorschlag der geschlossenen Wohnanlagen auf der Idee „zurück zur Natur“ basiert, also auf einem idyllischen und pastoralen Lebensstil. Diese Idee hat ihre Wurzeln im angelsächsischen Modell, demzufolge die Natur reinigt, die Stadt, im Gegensatz dazu, pervertiert. Im mediterranen Modell sind die Stadt und die Natur zwei komplett getrennte Einheiten und die Zivilisation ist immer nur im urbanen Raum ansässig, niemals auf dem Land.

Ein fundamentaler Widerspruch liegt darin, dass die geschlossenen Wohnanlagen in der Realität eine Bedrohung für die Natur darstellen. Der Vorstoß auf die peripheren Gebiete entfernt die natürliche Vegetation und weitet die Grenzen des bewohnbaren Raumes aus, wobei Asphalt, Stromnetz und Rasen die ursprüngliche Landschaft ersetzen. Die Arbeit von Professorin Regina Horta Duarte da UFMG (DUARTE, 2012) zeigt diesen Prozess, noch zu Beginn, in den 50er Jahren.

In letzter Zeit haben die geschlossenen Wohnanlagen in Brasilien den Diskurs des nordamerikanischen New Urbanism aufgenommen. Der als Reaktion auf den Prozess der Suburbanisierung in den USA entstandene New Urbanism schlägt dichter besiedelte Städte vor, die weniger von Autos abhängig und vielseitig sind (Geschäfte und Wohnbereiche gemeinsam).
Genaugenommen hat der New Urbanism eine konservative Ästhetik aufgenommen (LARA, 2001) und war erfolgreich in exklusiver und homogener Parzellierung, in einem sozioökonomischen Standpunkt. Die Logik der Exklusion durch Distanz war durch den New Urbanism nie gefährdet, und aus Konsequenz daraus, hat er sich auch nie dazu geeignet existierende Städte zu verbessern.

Hingerissen von der Idee, dass die Stadt der Ort der Armut und des Protestes sei, verlässt die höhergestellte Mittelschicht in den vereinigten Staaten in den 1960er und 70er Jahren und in Brasilien in den 80er und 90er Jahren, die urbanen Zentren mit ihrer ganzen Infrastruktur und zieht sich in die geschlossenen Wohnanlagen zurück. Im brasilianischen Fall, gibt es einen erschwerenden Umstand, nämlich den, dass diese Wohnanlagen weniger dicht besiedelt sind, mehr vom Auto abhängig und absolute Wohngegenden sind, also das perfekte Gegenteil zu den Vorschlägen des New Urbanisms. Aber die konservative Ästhetik und die Idee der Rückkehr in eine idyllische Vergangenheit, verkauft sich gut (LARA, 2011) außerdem natürlich, die Schwierigkeit des Zugangs, die mit dem magischen Wort übersetzt werden kann: Exklusivität.

Exklusivität ist die geschmackliche (und deshalb gut verkäufliche) Schwester des Wortes Exklusion. Die Distanz, durch die geschlossenen Wohnanlagen vom Rest der Stadt getrennt werden, ist eine Art von unsichtbarer Mauer, die die Nicht- Diversität jedes einzelnen Stückes fruchtbarer Erde garantieren.

Ich verwende hier den Begriff fruchtbare Erde, weil sie, die Erde, die Wurzel des ganzen Prozesses der Exklusion ist, den wir auf die harte Tour demolieren werden, zwischen Gummigeschossen und Tränengas, wie am 13. und 17. Juni 2013. Das liegt daran, dass die Revolution des „passe livre“ ein extrem wichtiger Schritt wäre, um die perverse Logik der räumlichen Exklusion zu demontieren oder wenigstens abzuschwächen. Mit einem öffentlichen Transportsystem, das gratis, oder wirklich subventioniert wäre, würde sich ein starker Preisvorteil für Grundstücke der Peripherie ergeben. Das ist der Schlüssel der Frage, die in der näheren Zukunft gelöst werden muss. Ich dachte, dass die Weltmeisterschaft uns kein Vermächtnis hinterließe und verstehe jetzt, dass ich falsch lag. Die Proteste sind das größte Vermächtnis der Weltmeisterschaft 2014.

Fernando Luiz Lara ist Architekt und Professor der University of Texas at Austin, wo er derzeit das Brazil Center no Lozano Long Institute of Latin American Studies leitet.



DUARTE, Regina H. (2012). “It Does Not Even Seem Like We Are in Brazil”: Country Clubs and Gated Communities in Belo Horizonte, Brazil, 1951–1964, Journal of Latin American Studies / Volume 44 / Issue 03 / August 2012, p. 435-466.
LARA, Fernando (2001). Vizinhos do Pateta. Arquitextos, São Paulo, 01.011, Vitruvius, abr 2001 <http://www.vitruvius.com.br/revistas/read/arquitextos/
01.011/899>.
LARA, Fernando (2011). New (Sub)Urbanism and Old Inequalities in Brazilian Gated Communities, Journal of Urban Design, Volume 16, Issue 03, p. 369-380.




Dienstag, 20. August 2013

“Sie wollten wissen, ob ich Zugang zu den Daten von Snowden habe” sagt der Brasilianer David Michael dos Santos Miranda

Ich habe alles, was passiert ist, noch nicht verarbeiten können”, sagt David Michael dos Santos Miranda, 28, aus Rio, der am Flughafen London, am Sonntag festgehalten wurde. Er ist am 10. August als Tourist nach Berlin gereist, um die Dokumentarfilmerin Laura Poitras zu treffen, die gemeinsam mit dem Journalisten Glenn Greenwald am Fall Edward Snowden arbeitet. Der Ex- Agent der CIA, hatte Daten der NSA, betreffend digitaler Spionage, veröffentlicht.

Miranda, der Freund von Greenwald, hat geheime Dokumente an Laura übergeben. Und er hatte vor andere Daten von den Files von Snowden nach Brasilien zu bringen. Stattdessen wurde er am Flughafen Heathrow gefangen genommen, wo er für elf Stunden festgehalten wurde, davon fast neun Stunden in einem Raum mit Agenten von Scotland Yard (London Metropolitan Police). „In keinem Moment wurde auch nur eine Frage zu Terrorismus gestellt. Sie wollten nicht wissen, ob ich Terrorist wäre oder ob ich irgendeinen Kontakt zu Terroristen hätte. Sie haben einfach ein Gesetz verwendet, um zu erreichen, was sie wollten.“ bekräftigt er.

Die britische Zeitung „The Guardian“, für die Greenwald arbeitet, hat zugegeben die Flüge von Miranda finanziert zu haben. Auch wenn er kein Angestellter der Zeitung ist, unterstützt der Brasilianer seinen Freund bei Reportagen, so eine Stellungnahme.

Vom Weißen Haus wurde heute bestätigt, dass die USA über die Festnahme von Miranda informiert wurden, es wurde aber abgestritten, dass die Regierung der vereinigten Staaten die Befragung oder Festnahme verlangt hätte.

Die Polizei und die britische Regierung werden die Festnahme offiziell erklären müssen. Der Anwalt David Anderson wird untersuchen, ob es missbräuchliche Anwendung der Antiterrorgesetzte gab und wird nach Abschluss, einen Bericht an das Parlament schicken und Sofortmaßnahmen in der Gesetzgebung vorschlagen.

Abgeordnete der Opposition kritisierten die Festnahme des Brasilianers. Yvette Cooper, die dafür verantwortlich ist, den Innenminister zu kontrollieren, verlangte eine dringliche Untersuchung des Falles.

In einer Mitteilung, die heute Nachmittag veröffentlicht wurde, hat der britische Botschafter in Brasilien, Alex Ellis, bestätigt, dass die Festnahme des Brasilianers „eine operative Frage der London Metropolitan Police“ ist. Der brasilianische Außenminister Antônio Patriota und sein britischer Kollege William Hague, haben am Nachmittag telefonisch über den Fall gesprochen.

In einem Interview mit der Folha sprach Miranda über die Aktion der britischen Behörden.

Warum sind sie nach Deutschland gereist?

Ich bin am 10. August nach Berlin gereist. Ich habe einige Daten für Laura (Poitras) mitgenommen, die seit dem Beginn des Falles Snowden, gemeinsam mit Glenn arbeitet. Ich wollte auch einige Daten auf zwei USB Sticks und auf einer externen Festplatte zurückbringen. Es wurde alles beschlagnahmt. Ich weiß nichts über den Inhalt. Die beiden (Glenn und Laura) kümmern sich darum.

Wie war die Annäherung der britischen Polizei?

Am Sonntag, bin ich um 7:00 aus Berlin abgeflogen, um nach Brasilien zurückzukehren. Ich hatte einen Anschlussflug in London. Nach der Landung am Flughafen Heathrow um 7:50, hat die Flugbegleiterin über die Lautsprecher im Flugzeug mitgeteilt, dass alle Passagiere mit dem Pass in der Hand aussteigen sollten. In diesem Moment wusste ich, dass sie hier waren, um mich zu holen. Beim Ausstieg haben drei Beamte auf mich gewartet, noch innerhalb der Fluggastbrücke. Nachdem sie meinen Pass angeschaut haben, sagte einer: „Mein Herr, begleiten sie mich bitte“.

Scotland Yard hat in einen Vermerk veröffentlicht, dass sie aufgrund des Gesetzes zur Bekämpfung von Terrorismus, 9 Stunden festgehalten wurden...

Das stimmt nicht. Es waren elf Stunden. Bevor wir in den Befragungsraum gingen, wurde ich von den Beamten zwei Stunden auf dem Flughafen herumgeführt. In keinem Moment wurde ich zu Terrorismus befragt. Sie wollten nicht wissen, ob ich Terrorist wäre, oder ob ich irgendeinen Kontakt zu Terroristen hätte. Sie haben ganz einfach ein Gesetz verwendet, um zu Erreichen, was sie wollten. Basierend auf diesem Gesetz, das sich auf den Terrorismus bezieht, können sie befragen, wen sie wollen und wenn sich jemand weigert, können sie ihn sogar ins Gefängnis stecken. Das haben sie den ganzen Tag gemacht. Sie haben gesagt, dass ich wenn ich nicht kooperieren würde, ins Gefängnis müsste. Sie haben mir eine Kopie dieses Gesetzes gezeigt.

Wie war die Befragung?

Ich bin in einen weißen Raum ohne Fenster gebracht worden. Es gab vier Stühle, einen Tisch und ein Gerät, um Fingerabdrücke zu nehmen. Ich bin dort neun Stunden geblieben, die ganze Zeit wurde ich mit dem Gefängnis bedroht. Sie haben mir mein gesamtes Handgepäck abgenommen. Sie haben alles durchstöbert. Als ich zu Hause, hier in Rio ankam, habe ich bemerkt, dass zwei Geräte verschwunden sind: ein Rooter und eine Smartwatch von Sony, die ich für einen Freund gekauft hatte. Ich hatte das selbe Modell der Uhr in meinem Rucksack, der auch beschlagnahmt wurde. Alle 30 Minuten haben sie mir Wasser angeboten. Ich habe nichts getrunken und sie auch nicht. Sie haben die Flüssigkeit immer weg geschüttet.

Was wollten sie von Ihnen wissen?

Sie haben mich zu meiner Beziehung zu Glenn befragt. Sie haben einige Male zu meinem Verhältnis zu Glenn gefragt. Sie haben gefragt, wie ich in seiner Arbeit mitwirke. Was ich mache. Sie blieben ständig bei dem selben Thema. Sie sind rund um mich gegangen, während sie fragten. Es war ein psychologischer Angriff. Sie wollten wissen, ob ich Zugang zu den Inhalten hätte, die von Snowden geschickt wurden. Ich erklärte ihnen, dass ich keinen Zugang zu den Daten hatte und dass meine Arbeitsverhältnis mit Glenn, sich auf Marketing beschränkt. Ich berate Glenn normalerweise darin, was er zu den Veröffentlichungen seiner Reportagen sagt. Ich helfe ihm, die geeigneten Mittel zu wählen.

Was wollten sie während der neun Stunden sonst noch wissen?

Die Agenten haben sich während der Befragung abgelöst. Sie haben gefragt, warum die Menschen auf den Straßen Brasilien protestieren. Sie wollten wissen was die Leute dazu bringt auf die Straßen zu gehen. Ich sagte, dass das Volk über die Korruption im Land empört ist. Sie haben gefragt, welche Art von Korruption es in Brasilien gibt. Dann haben sie gefragt, ob ich irgendeine Beziehung zur brasilianischen Regierung hätte. Ich habe geantwortet, dass mein Partner vor kurzem im brasilianischen Senat war. Ich habe bei dieser Gelegenheit erwähnt, dass ich einige Senatoren kenne. Ich wollte auf diese Art zeigen, dass ich wichtige Personen in meinem Land kenne, dass ich nicht alleine bin. Ich weiß nicht, was sie dazu gebracht hat, diese Fragen über Brasilien zu stellen. Ich habe bis jetzt noch nicht alles verarbeiten können, was passiert ist.


von Fabio Brisolla

Montag, 29. April 2013

Angola verbietet Tätigkeit brasilianischer evangelischer Kirchen

Die angolanische Regierung hat die Mehrheit der brasilianischen evangelischen Kirchen aus dem Land verbannt

Die Regierung spricht davon, dass sie „irreführende Werbung“ praktizieren und „die Schwächen des angolanischen Volkes ausnützen“, außerdem wurden sie nicht durch den Staat anerkannt.

Maßnahme der Regierung sichert „Monopol“ der Universal

„Was es hier in Angola mehr als genug gibt, sind Kirchen brasilianischen Ursprungs, und das ist ein Problem, sie spielen mit den Schwächen des angolanischen Volkes und machen irreführende Werbung“, sagt Rui Falcão der Folha. Er ist Sekretär des Politbüros der MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola, Volksbewegung zur Befreiung Angolas, Anm.) und Sprecher der Partei, die seit der Unabhängigkeit Angolas 1975 an der Macht ist.

Circa 15 Prozent der angolanischen Bevölkerung sind evangelisch, ein Anteil der nach Regierungsangaben gewachsen ist.

Am 31. Dezember des vergangenen Jahres sind 16 Personen während eines Kultes der Igreja Universal do Reino de Deus in Luanda gestorben, weil sie erstickt sind und zerquetscht wurden.
Wegen des Kultes haben sich 150000 Personen versammelt, viel mehr als im Stadion Cidadela erlaubt sind.

Das Motto des Kultes war „Der Tag des Endes“ und die Kirche hat dazu ausgerufen „allen Problemen im Leben der Gläubigen ein Ende zu setzten: Krankheit, Armut, Arbeitslosigkeit, Zauberei, Neid, Familienprobleme, Trennung, Schulden.“

Die Regierung hat eine Untersuchung eingeleitet. Im Februar wurden die Universal und andere brasilianische Kirchen im Land geschlossen: die Mundial do Poder de Deus, Mundial Renovada und Igreja Evangélica Pentecostal Nova Jerusalém.
 
Am 31. März dieses Jahres hat die Regierung das Verbot der Universal, die einzige vom Staat anerkannte Kirche, aufgehoben.

Aber die Kirche darf nur unter Aufsicht des Innenministeriums, der Ministerien für Kultur und Menschenrechte und der Generalstaatsanwaltschaft weitermachen. Die anderen brasilianischen Kirchen bleiben weiterhin verboten, weil die „offizielle Anerkennung des Staates Angola fehlt.“ Bevor sie verboten wurden, hatten sie eine provisorische Erlaubnis.

Die Kirchen warten auf die Anerkennung, damit sie den Betrieb wieder aufnehmen können, aber viele könnten diese gar nicht mehr erhalten. „Diese Kirchen werden keine Anerkennung vom Staat erhalten, hauptsächlich diejenigen, die Abspaltungen von anderen Kirchen sind und sie werden auch weiterhin im Lnad verboten bleiben“, sagt Falcão. „Sie sind einfach nur ein Geschäft.“

Laut Falcão ist die Stärke der brasilianischen evangelischen Kirchen in Angola besorgniserregend. „Sie führen die Bevölkerung in die Irre, es ist ein Geschäft, das ist mehr als offensichtlich, sie verkaufen Wunder.“

Bezogen auf die Universal liegt das Hauptaugenmerk auf der Sicherheit, sagt Falcão.


von Patricia Campos Mello

Sonntag, 21. April 2013

Export von brasilianischen Kunstwerken wächst seit 2007 um 403%

Im selben Zeitraum, ist der Import um 153% gestiegen, dadurch ist die Handelsbilanz für Brasilien positiv geworden

Trotz des Höchststandes, gibt es noch immer Barrieren für den Sektor, die Regierung soll aber unter Druck gesetzt werden, um die Barrieren zu überwinden

Die Zahlen sind atemberaubend (und machen andere Wirtschaftsbereiche neidisch). Zwischen 2007 und 2012, ist der Export von Kunstwerken und Antiquitäten in Brasilien um 403% gewachsen. Der Markt ist in einer aufsteigenden Kurve, von 9,2 Millionen US$ auf 46,3 Millionen gewachsen. Das bedeutet, dass die Werte von zum Beispiel Erdöl, Erz und Fleisch verhältnismäßig übertroffen wurden.

Auch bei den Importen war der Boom nachdrücklich. 2007 hat Brasilien 15,2 Millionen US$ an Kunstwerken und Antiquitäten importiert. Im letzten Jahr hat sich die Zahl mit 38,5 Millionen mehr als verdoppelt. Das Wachstum auf beiden Seiten der Handelsbilanz – die sich in diesem Zeitraum als positiv für das Land erwiesen hat - hat den Sektor aufgewiegelt und ihm noch mehr Selbstvertrauen gegeben, um die Regierung unter Druck zu setzen, vorteilhafte öffentlichkeitspolitische Maßnahmen umzusetzen.

Die Zahlen sind Teil einer Erhebung, die Anfang des Jahres vom Ministerium für Entwicklung, Industrie und Außenhandel gemacht wurde. Das Dokument, zu dem OGLOBO Zugang hatte, wird zu einer Debatte über Steuererleichterungen für den Kunsthandel führen. Durch die Zahlen wird nicht nur eine aktuelles Bild gezeichnet, sonder auch jeglicher Zweifel, über den guten Zeitpunkt für Kunst im Land, beseitigt.

Aber diejenigen, die in dem Bereich arbeiten, versichern, dass das Wachstum noch größer sein könnte, sofern zumindest drei Barrieren überwunden werden, nämlich die hohe Besteuerung, die Zollbürokratie und die fehlende Professionalisierung von Galerien und Künstlern.

Von den 46,3 Millionen US$ die von Brasilien 2012 in Kunst exportiert wurden, fallen 25,7 Millionen (59,4%) auf Bilder, Gemälde und Handzeichnungen. Auf dem zweiten Platz sind Skulpturen und Statuen mit 17,6 Millionen, oder 38%. Seit mindestens zwei Jahren sind die Vereinigten Staaten das wichtigste Ziel der Exporte. 2010 haben sie zehn Millionen US Dollar erhalten. Im letzten Jahr 23,6 Millionen. Der zweite Platz im Ranking geht an die Schweiz. In den letzten zwei Jahren hat das Land, in dem die Art Basel, die weltweit wichtigste Kunstmesse, stattfindet, Großbritannien überholt. 2010 wurden zwei Millionen Dollar an Kunst und Antiquitäten in die Schweiz verkauft. 2012 waren es 9,6 Millionen.

Auf Seiten des Importes, fällt der Großteil auf Skulpturen und Statuen. Sie repräsentieren 66,9% von den insgesamt 38,5 Millionen US$ an Importen, das entspricht 25,7 Millionen. Dieser Wert ist drei Mal größer als derjenige vom Import von Bildern, Gemälden und Handzeichnungen, die mit 8,1 Millionen US$ auf dem zweiten Platz liegen,

Stärkung der Galerien

Die USA, Großbritannien und die Schweiz sind auf den drei ersten Plätzen des Rankings der Importe. Wieder erregt das Wachstum der Schweiz Aufsehen. 2010 war sie noch auf dem 12. Platz und jetzt auf dem zweiten. Spezialisten führen das auf die Stärkung der brasilianischen Galerien in Basel zurück. Das Volumen der gehandelten Kunstwerke und der für sie bezahlte Wert sind gestiegen, genauso wie die Präsenz von Sammlern, die auf der Kunstmesse wirklich kaufen.

„Es ist interessant die Ergebnisse der Studie zu beobachten, weil sie damit übereinstimmen was wir hier sehen“, so Christiano Braga, Leiter der Agência Brasileira de Promoção de Exportações e Investimentos (Apex, Brasilianische Agentur zur Förderung von Exporten und Investitionen, Anm.), die seit 2007 ein Programm zur Förderung des Primärmarktes für Kunst betreibt. „Vor sechs Jahren, als wir Latitude gegründet haben, haben wir mit sechs Galerien zusammengearbeitet, die sporadisch exportiert haben. Gemeinsam hatten sie ein Geschäftsvolumen von 6 Millionen US$. 2012 ist die Gesamtzahl der Galerien auf 54 angewachsen, wobei 19 von ihnen sehr regelmäßig exportieren. Und das gehandelte Volumen ist auf 27 Millionen angewachsen, mit einem Höchstwert von 350%.

Ana Letícia Fialho, Beraterin und Forscherin des Projekts Latitude, nimmt die Erhebung auch sehr positiv auf.

„Die Sichtbarkeit der brasilianischen Kunst ist in den letzten fünf Jahren sehr beschleunigt worden, dank des Interesses von Institutionen, wie dem MoMA, der Tate und der Reina Sofia, die Ausstellungen gemacht haben und Werke von unseren Künstlern gekauft haben. Diese Positionierung hat sich offensichtlich unter den internationalen Sammlern herumgesprochen und das sieht man jetzt an diesen Daten.“

Brenda Valansi, die Veranstalterin der ArtRio, ist darüber erfreut, dass die Regierung ein Dokument zur Verfügung hat, das die Macht des Kunsthandels aufzeigt. Sie sagt, dass diese Zahlen dazu verwendet werden, noch mehr Druck aufzubauen, um öffentlichkeitspolitische Maßnahmen durchzusetzen, die das Wachstum des Kunstsektors unterstützen.

„Am 8. habe ich die Kulturministerin Marta Suplicy getroffen und wir haben uns über die Nachteile der aktuellen Steuerbelastung unterhalten. Ich habe nachdrücklich darauf hingewiesen, dass unsere Steuern für niemanden Vorteile mit sich bringen und sie hat versprochen die Frage zu überprüfen. Die Zahlen steigen an, aber Brasilien kommt nicht einmal nahe an das, was die anderen Schwellenländer machen.“

Fernanda Feitosa, die Direktorin der SP-Arte, stimmt überein:

„Brasilien sollte die Steuern überdenken. Im Fall der Fotografie liegt der Steuersatz bei 58%. In der Videokunst bei 80%“, beschwert sie sich. „Es gibt vier verschiedene Steuern. Drei föderale (IR, PIS, und Confins) und eine staatliche (ICMS). Abgaben auf diesem Niveau sind Zollbarrieren. Wir müssen Kunstwerke als wertvolles Kulturgut verstehen, deren Zirkulation stimuliert werden sollte, nicht vermindert.

Abgesehen von der Steuererleichterung, sehen diejenigen, die mit dem internationalen Handel von brasilianischer Kunst arbeiten, noch zwei andere Hindernisse für die Expansion: die Zollbürokratie und eine gewisses Fehlen an Vorbereitung der Galerien und Künstler, um mit der internationalen Konkurrenz umzugehen.

„Im brasilianischen Zoll sind spezielle Vorgehensweisen im Bezug auf die Handhabung der Kunstwerke nicht vorhanden“, bedauert Fernanda Feitosa, von der SP-Arte. „Außerdem gibt es keine Verfahren zur Beschleunigung der Freigabe von Kunstwerken, die bei Ausstellungen gezeigt werden.“

„Ein dritter Kritikpunkt ist, dass es in den Galerien noch immer an Know-How fehlt, wie man mit der internationalen Konkurrenz umgehen soll“, sagt Christiano Bragas, von der Apex. „Mit Latitude unterstützen wir nicht nur den Aufbau von Ständen auf Messen, sondern wir helfen auch mit den Vorbereitungen für die Anmeldung. Viele Galerien wissen nicht, wie man das macht. Deshalb ist eine Professionalisierung des Sektors notwendig.

Der Ex-Präsident des Instituto Brasileiro de Museus (Ibram, brasilianisches Institut für Museen, Anm.), der seit einem Jahr für die Steuererleichterung kämpft, erkennt in den Daten des Ministeriums die „Universalisierung“ der brasilianischen Kunst.Er ist aber der Meinung, dass die Regierung auf etwas anderes Achten muss, wenn sie beschließt auf den Kunstbereich einzuwirken.

„Es ist notwendig, den brasilianischen Institutionen Mittel zur Verfügung zu stellen, um öffentliche Sammlungen zusammenzustellen. Wir müssen jetzt damit beginnen zu kaufen, oder damit aufhören so viele Hindernisse für Spenden in den Weg zu legen.

Bevor er vor zwei Monaten aus der Ibram ausgetreten ist, hat Nascimento noch ein Projekt im Amt begonnen:

Ein Prozent des Wertes von importierten Kunstwerken soll für einen Beschaffungsfond für öffentliche Sammlungen zur Verfügung gestellt werden. Die Regierung diskutiert diesen Vorschlag.


von Christina Tardáguila

Donnerstag, 18. April 2013

Drogen und soziale Panik

Die Studie des Centro Brasileiro de Informações Sobre Drogas Psicotrópicas (Cebrid, Brasilianisches Zentrum für Informationen zu psychotropen Substanzen, Anm.) von der Universidade Federal de São Paulo (Unifesp, Universität São Paulo, Anm.), liefert einige Anhaltspunkte, welche Auswirkungen das wachsende Crack Problem auf die Bevölkerung hat. In einer Erhebung haben 77,1 Prozent der Befragten, die ein- oder zweimalige Verwendung im Leben von Kokain oder Crack, als gravierendes Risiko eingeschätzt, während der Wert für Marihuana, bei 48,1 % lag. Die ein- bis zweimalige Einnahme pro Woche von Alkohol stellte für 20,8 % der Befragten ein großes Risiko dar. Die Daten betreffend Crack bestätigen das, was unter Brasilianern als common sense gilt: dass die Droge „beim ersten Zug“ süchtig macht, dass sie schnellen körperlichen und moralischen Abbau verursacht, dass sie familiäre Destrukturierung verursacht und sehr schnell tötet, etc.

Sergio Alarcon bestätigt, dass Ursache und Wirkung sehr oft verwechselt werden, wenn es um Crack geht. „Crack ist keine andere Droge als Kokain: Es ist das Kokain selbst, das zu einer rauchbaren Mischung verarbeitet wird. Der Erfolg der Droge hat mit den niedrigen Kosten ihrer Produktion und der Beschaffung zu tun. Crack ist zum Kokain der ärmeren Bevölkerungsschichten geworden. Es hat nur die anderen Drogen ersetzt, die schon immer gegen den physischen und moralischen Schmerz verwendet wurden, der durch die Armut erzeugt wird. Crack entblößt die menschliche Not vor denjenigen, die sie sicherlich in der Unsichtbarkeit bevorzugen“, führt er aus. Tarcidio Andrade fügt hinzu, dass die Droge wie gemacht ist, für einen von der Armut gekennzeichneten sozialen Kontext. „Wenn man sagt, dass jemand, der Crack verwendet, auf der Straße, ja in der Gosse enden wird, vergisst man, dass die Straße und die Gosse schon vor dem Crack existiert haben. Und wahrscheinlich stellt das Crack für die Leute, die auf den Straßen unter extrem benachteiligten Bedingungen leben, eine Unterstützung dar, um ihren Gemütszustand, angesichts einer schrecklichen Realität, zu verbessern. Crack ist ein Stimulans, ein Antidepressivum, es lindert den Hunger von schlecht Ernährten. Auch wenn es einen Suchtkreislauf gibt, hat dieser nicht mit der Droge begonnen, sie tritt erst in einem sekundären Moment ein“, schließt er.

Die größte Schwierigkeit, die das Crack mit sich bringt, so Alarcon, ist es nicht, die gewalttätigen Süchtigen zu behandeln, sondern es zu schaffen, die Armut, die viele Menschen erst zur Droge bringt, zu beenden. „ Alle, die auch nur die geringste Ahnung von psychischer und öffentlicher Gesundheit haben, wissen was man machen kann und wie man es machen kann, und deshalb wollen wir die Implementierung von öffentlichen Einrichtungen, die von der SUS (Sistema Único de Saúde, öffentliches Gesundheitssystem, Anm.) empfohlen werden. Das Schwierigkeit liegt darin, wie man es schaffen kann diese Leute aus der extremen Armut zu retten und wie man es vermeiden kann, dass weiterhin extrem arme Menschen fabriziert werden, verlassene Kinder und Jugendliche, die einmal auf den Straßen, auf andere Drogen treffen werden, die viel zerstörerischer sind als Crack, wie die sexuelle Ausbeutung, ansteckende Krankheiten und extreme Gewalt, die Gewalt des Staates mit eingeschlossen“, sagt er.

Im Artikel Causa mortis em usuários de crack (Todesursachen von Crack-Rauchern, Anm.), der 2006 veröffentlicht wurde, haben Forscher des Fachbereichs Psychiatrie der Universität São Paulo dargelegt, dass die Sterblichkeit dieser Menschen viel mehr mit Gewalt und Anfälligkeit für ansteckende Krankheiten in Verbindung steht, als mit dem eigentlichen Substanzkonsum. Die Studie hat 131 Cracksüchtige in São Paulo, die sich selbst in eine Entzugsstation eingeliefert hatten, fünf Jahre lang begleitet. Nach Ablauf der fünf Jahre sind von den 124 Patienten, die ausfindig gemacht wurden, 23 gestorben, wobei 13 ermordet wurden.

Weitere sechs Patienten sind an Folgen von AIDS gestorben und einer an Hepatitis B. Weitere zwei Patienten sind an einer Überdosis gestorben und einer ist ertrunken.
Die Hälfte der verstorbenen Patienten war jünger als 25. Die Studie hat gezeigt, dass es für einen Cracksüchtigen, während des Studienzeitraums in São Paulo, sieben Mal wahrscheinlicher war zu sterben, als für die allgemeine Bevölkerung.

„Viele Crack-Raucher verwenden die Droge, weil sie dadurch mehr Energie haben und sie müssen ja längere Zeit wach sein, weil sie in sehr lebensbedrohlichen Situationen leben. Es ist eine Illusion, was in Bezug auf das Crack in Umlauf gebracht wird, nämlich dass es übermächtig ist und schnell tötet. In Wirklichkeit haben diese Menschen ein sehr fragiles Leben, aber nicht notwendigerweise nur wegen dem Crack“, legt Marco Aurélio dar.

Die Forscher der Universität São Paulo, Ligia Bonacim Duailibi, Marcelo Ribeiro und Ronaldo Laranjeira überprüfen im Artikel „Perfil dos usuários de cocaína e crack no Brasil“ (Profil von Crack- und Kokainkonsumenten in Brasilien, Anm.) andere akademische Artikel, die über das Thema in Datenbanken und in der Dissertationsdatenbank der Coordenação de Aperfeiçoamento de Pessoal de Nível Superior (Capes) verfügbar waren. Laut dieser Erhebung ist ein typischer Cracksüchtiger jung, arbeitslos, hat geringe Schulbildung, hat wenig Geldmittel, kommt aus einer destrukturierten Familie, hat eine Vorgeschichte mit injizierbaren Drogen und risikoreiches Sexualverhalten. Diese Faktoren, so der Artikel, machen den Crackkonsumenten zu jemanden, der schwer von einer Behandlung zu überzeugen ist, deshalb besteht die Notwendigkeit, intensivere und geeignetere Ansätzen in jeder Phase der Behandlung einzusetzen.“

Außerdem werden im Artikel andere Schwierigkeiten zur Beibehaltung der Behandlung dargelegt: „Der Konsum wird nicht als Problem anerkannt, abgesehen davon ist der illegalen Status und die Kriminalität, die mit der Droge in Verbindung steht, ein Problem, außerdem kommt es zu Stigmatisierung und es gibt Vorurteile, und schließlich fehlen Zugangsmöglichkeiten zu existierenden Einrichtungen oder die Akzeptanz dieser Einrichtungen.“ Unter den Hilfestellungen, die größere Zustimmung finden, sind die Drogenersatztherapie, Selbsthilfegruppen, Behandlung von Müttern und der Familie und allgemeinmedizinische Behandlungen. Die Forscher schließen mit der Behauptung, dass die Informationen bezüglich des Crack- und Kokainkonsums in Brasilien „noch jenseits des Wünschenswerten sind, im Speziellen, wenn öffentlichkeitspolitische Aktionen nur zu erahnen sind, die wissenschaftliche Beweise berücksichtigen und die Fähigkeit haben, auf alle Besonderheiten einzugehen, die mir der Vorbeugung und der Behandlung dieser Substanzen zu tun haben.
Andererseits, wurden in den letzten 20 Jahren ein wachsendes Bewusstsein für das Thema festgestellt […] Neue epidemiologische Studien und Erhebungen sind in allen untersuchten Bereichen notwendig.“

Die Reportage der Poli hat die Pressestelle des Gesundheitsministeriums kontaktiert, um einen Interviewtermin festzulegen, wurde aber darüber informiert, dass das Amt nicht über das Thema spreche.


von André Antunes