Mittwoch, 15. Februar 2017

Der Polizeistreik in Espirito Santo - Grundlegende Informationen und Hintergründe

Vom 4. bis zum 11. Februar 2017 legte ein Streik der Polícia Militar in Espirito Santo große Teile des öffentlichen Lebens lahm.
Insgesamt wurden in der Zeit des Streikes 137 Menschen ermordet, das Bundesland, insbesondere die großen Städte wirkten an einigen Tagen wie ausgestorben. Es gab Überfälle, Plünderungen, Diebstähle, Fälle von Selbstjustiz, viele Gerüchte und ein von Angst beherrschtes Klima.

Informationen über das Bundesland und seine Hauptstadt:

Das brasilianische Bundesland Espirito Santo ist ein kleines Bundesland, nördlich von Rio de Janeiro gelegen. Im Westen grenzt es an Minas Gerais und im Norden an Bahia. Espirito Santo wird der Großregion „Sudeste“ zugerechnet, die außerdem die Bundesländer Minas Gerais, Rio de Janeiro und Sao Paulo umfasst.
Espirito Santo hat insgesamt etwa vier Millionen Einwohner. Wichtige Wirtschaftsbereiche im Bundesland sind die Landwirtschaft, wobei vor allem Zuckerrohr, Kokosnüsse und Kaffee angebaut werden. Außerdem haben die Viehzucht und der Bergbau bedeutenden Einfluss auf die Wirtschaft Espirito Santos. In den letzten Jahren ist die Marmor- und Granitproduktion stark gewachsen.
Das Bruttoinlandsproduktpro Kopf im Jahr 2014 betrug 33 148 Reais (ca. 10 000 Euro), damit liegt das Bundesland in der Liste der anderen Bundesländer auf Platz fünf.

Die Hauptstadt des Bundeslandes, Vitória, ist eine für brasilianische Verhältnisse eher kleine Stadt mit ca. 360000 Einwohnern. Der GroßraumVitoria, der außerdem aus den Städten Vila Velha, Cariacica und Serra besteht, hat aber über 1,7 Millionen Einwohner.
Eigentlich geht in der Hauptstadt alles einen für brasilianische Verhältnisse geordneten Weg und die die Capixabas, so werden die Einwohner Vitórias genannt, sind stolz auf ihre Stadt, auf die Wirtschaft, aber auch auf die subjektiv höhere Sicherheitslage, als zum Beispiel in Rio de Janeiro.

In Rankings über die Lebensqualität schneidet Vitória im Vergleich mit den anderen brasilianischen Hauptstädten regelmäßig sehr gut ab, noch im September 2016 führte sie die Listeder 27 brasilianischen Hauptstädte an.
Die Stadt liegt direkt am Meer und das Zentrum liegt auf einer Insel. Vitória wird oft kleines Rio genannt, weil es Rio landschaftlich ähnelt, neben Hügeln und Felsen, die direkt am Meer liegen, gibt es einige kleinere Inseln. Außerdem erinnert die Brücke Terceira Ponte, die übers Meer nach Vila Velha führt an die Brücke Rio - Niterói.
Außerdem ist Vitoria eine bedeutende Hafenstadt. Neben dem Containerhafen im Zentrum, gibt es den Industriehafen Tubarão, des multinationalen Konzerns Vale S.A.(früher Companhia Vale do Rio Doce - CVRD) der auch maßgeblichen Einfluss auf die Wirtschaft Vitorias hat.

Obwohl das Wasser des wichtigsten Strandes Vitórias (Praia de Camburi) meist zum Baden ungeeignet ist, weil der Industriehafen direkt am Ende des Strandesliegt, ist er bei den Bewohner der angrenzenden Viertel sehr beliebt und wird gerne für sportliche Aktivitäten genutzt, aber auch um in der Sonne zu liegen, zum flanieren oder um spätabends noch in Bars und Restaurants auszugehen. Normalerweise ist der Strand im Sommer bis ca. Mitternacht sehr belebt.

Vitória war auch vor dem Polizeistreik keine sichere Stadt, aber wie überall in Brasilien ist man daran gewöhnt, Nachrichten von Toten und Überfällen zu hören, trotzdem nimmt das Leben seinen geregelten lauf. Oft betreffen diese Nachrichten die eher ärmeren Viertel in den Umlandgemeinden. Immer wieder hört man von der relativ hohen Mordrate. Sie lag in Espirito Santo 2014 bei 39,3Morden pro 100 000 Einwohnern. Das ist der höchste Wert der brasilianischen Region Südosten.
Dabei ist auffällig, dass Serra (72,4) Cariacica (57,5) und Vila Velha (49,2) besonders hohe Raten aufweisen. In den letzten Jahren waren die Zahlen für Espirito Santo aber rückläufig.

Alles in allem kann man Vitória trotz aller Probleme als lebenswerte Stadt bezeichnen und in der Bevölkerung hat man nicht damit gerechnet, dass die Situation in so kurzer Zeit dermaßen eskalieren könnte.

Was ist passiert?

Die Polícia Militar, (in der Übersetzung Militärpolizei) begann am Samstag, dem vierten Februar zu streiken. Eigentlich ist es angehörigen der Militärpolizei verfassungsmäßig verboten zu streiken, das Verbot wurde aber dadurch umgangen, indem offiziell nicht die Polizistinnen und Polizisten streikten. Stattdessen wurden die Ausgänge der Polizeiwachen von Verwandten der PolizistInnen besetzt. Dadurch wurde es ihnen offensichtlich unmöglich gemacht, ihre Arbeit zu verrichten. Trotzdem wurde der Streik nach kurzer Zeit von Gerichten als illegal eingestuft und auch der oberste Kommandant der Militärpolizei Espirito Santos hat die Polizisten dazu aufgerufen, ihren Dienst wieder anzutreten.

Zum besseren Verständnis: Die brasilianische Polícia Militar ist keine Militärpolizei im eigentlichen Sinne (im Gegensatz zur Polícia do Exército).
Sie ist eine Gendarmerie in den einzelnen Bundesstaaten, die für die öffentliche Sicherheit verantwortlich ist und die Aufgaben einer allgemeinen Polizei inne hat. Sie ist dem Gouverneur unterstellt, aber militärisch organisiert. In ganz Espirito Santo gibt es an die 10 000 Militärpolizisten.

Der Verdienst eines Angehörigen der Polícia Militar in Espirito Santo liegt weit unter dem Durchschnitt der anderen Bundesstaaten. Derzeit liegt das Einstiegsgehalt eines Polizisten bei ca. 2600 Reais (ca. 780 Euro) brutto. Außerdem wurden die Gehälter seit 2010 nicht mehr erhöht und seit 2014 nicht mal an die Inflationsrate (in den letzten fünf Jahren lag die Inflation in Brasilien jährlich zwischen sechs bis zehn Prozent) angepasst. Darüber hinaus hat der Beruf grundsätzlich kein besonders hohes Ansehen und ist auch oft gefährlich.

Was fordern die Angehörigen der Polizisten?
Die wichtigste Forderung ist, die Gehälter zu erhöhen und die Anpassung an die Inflationsrate vorzunehmen. Aber auch Nachtdienstzuschläge und Gefahrenzulagen werden verlangt.
Für Angehörige der Militärpolizei in Espirito Santo gibt es keine eigene private Krankenversicherung, obwohl der Beruf gefährlich ist. (In größeren brasilianischen Firmen ist eine private Krankenversicherung oft Teil der Bezahlung)
Außerdem wird der schlechte Zustand der Ausrüstung bemängelt. Anscheinend werden nicht alle PolizistInnen mit schusssicheren Westen ausgestattet und der Zustand der Streifenwagen ist in schlechtem Zustand, oft fehlen die Mittel, um die Wägen ausreichend zu betanken.
Darüber hinaus werden auch vorgesehene Beförderungen seit längerer Zeit nicht mehr durchgeführt.

Wer sind die Demonstrantinnen?
Hauptsächlich demonstrieren Frauen für die besseren Arbeitsbedingungen der PolizistInnen. Es sind die Ehefrauen, Mütter, Freundinnen und Schwestern der Polizistinnen und sie organisieren sich über soziale Netzwerke, hauptsächlich über Whatsapp Gruppen. Die Demonstrantinnen campieren vor den Eingängen vieler Polizeiwachen in ganz Espirito Santo und verhindern damit, dass die Polizistinnen ihre Arbeit versehen. Angeblich sind kaum Angehörige von höherrangigen Polizisten unter den Protestierenden.




Bevölkerung:
Die Bevölkerung steht den Ereignissen großteils machtlos gegenüber. In den ersten Tagen überschwemmen Videos und Bilder von gewalttätigen Übergriffen, Schusswechseln, Plünderungen, usw. die sozialen Netzwerke.
Die Rufe nach Selbstjustiz werden lauter, es ist gängige Meinung, dass sich die Bevölkerung mit Waffen selbst schützen sollte, wenn die Polizei dazu nicht in der Lage ist. Viele Gerüchte und Übertreibungen machen die Runde, die Lage ist aber wirklich außer Kontrolle und wer nicht außer Haus muss, bleibt zu Hause.

Allein am 6. Februar wurden 40 Menschen ermordet, am 7. noch immer 22. Im Vergleich dazu wurden im Jänner durchschnittlich vier Menschen pro Tag ermordet. Die Opfer sind zu 90 % männlich, der Großteil zwischen 17 und 20 Jahre alt und durch eine Schusswaffe ermordet.
Die Anzahl der Todesopfer erreichte ein so großes Ausmaß, dass sogar die Kühlräumlichkeiten der Gerichtsmedizin an ihre Grenzen kamen.

Mittlerweile gibt es einen Bericht von CBN, dass ein großer Teil der Toten auf illegale Todesschwadrone der Polizei zurückgehen könnte. Die brasilianischen Bundespolizei Polícia Federal hat Ermittlungen eingeleitet.
Derartige Gruppierungen könnten den Streik ausgenützt haben, um sich an Rivalen zu rächen. Es wäre nicht das erste Mal, dass in Espirito Santo derartige Gruppierungen ihr Unwesen treiben: So war die paramilitärische LeCocq, die während der Zeit der Militärdiktatur in Rio gegründet wurde, bis in das Jahr 2005 in Espirito Santo aktiv.

Darüber hinaus wurden im Zeitraum des Streikes über 600 Fahrzeuge gestohlen, (nur am Montag dem 6. Februar wurden 200 KfZ gestohlen, im Durchschnitt 20 täglich) und 300Geschäfte geplündert.

Geschäfte, Schulen und Krankenhäuser blieben teilweise geschlossen. Der öffentliche Busverkehr kam Großteils zum erliegen, nachdem am 5. Februar Busse in Brand gesetzt wurden und später Busfahrer bedroht wurden, den Verkehr einzustellen, da ansonsten wieder Brandanschläge verübt würden.

Viele Städte in Espirito Santo wirken zu Beginn der Streikwoche wie ausgestorben, Angst und Ratlosigkeit greifen um sich. In den sozialen Netzwerken verschaffen sich die Bewohner Gehör.

Der Hashtag #espedesocorro (Espirito Santo bittet um Hilfe) wird dazu verwendet um Meinungen kundzutun, aber auch um Videos und Bilder zu teilen. Die großen Medien berichten anfangs extrem zurückhaltend, oder gar nicht über die Vorkommnisse, die Bewohner fühlen sich vergessen. Auch der brasilianische Präsident Michel Temer meldet sich erst nach einer Woche zu Wort.
Ein Kritikpunkt der Bevölkerung ist auch, dass es offensichtlich gab es keinen Notfallplan für den Fall eines Streikes gab.

Erst ab Montag (6.2.) greifen die großen Medien des Landes die Ereignisse verstärkt auf und es wird noch am selben Tag beschlossen das Heer und einige Spezialeinheiten nach Vitória zu schicken.

Später am Abend kursieren bereits Bilder von bewaffneten Soldaten, die Leute festnehmen, Panzern und militärischem Gerät in den Straßen von Espirito Santo. Wie immer werden die besseren Viertel der Stadt bevorzugt, in den ärmeren und ländlicheren Bereichen dauert es länger, bis das Heer einmarschiert.

Politischer Hintergrund
Der aktuelle Gouverneur Espirito Santos, Paulo Hartung wurde 2014 zum dritten mal in das Amt gewählt. Er ist seit kurzem aus der Partei des brasilianischen Präsidenten Michel Temer PMDB ausgetreten. Seine Karriere hat er aber in der PMDB begonnen, um danach eines der Gründungsmitglieder der PSDB zu werden, außerdem war er danach auch Mitglied der Parteien PSB und PPS, um 2005 wieder in die PMDB einzutreten.

Seit 2015 fährt Hartung eine strenge Haushaltspolitik. Viele öffentliche Ausgaben wurden eingefroren, und die Mittel für den Haushalt 2016 um 1,3 Milliarden Reais (ca. 390 Millionen Euro) gekürzt.

Der Gouverneur war während des Ausbruchs der Sicherheitskrise in São Paulo wegen eines Blasentumors in Behandlung und kehrt erst am 7. Februar nach Espirito Santo zurück.

Nach seiner Rückkehr macht die Regierung alles, um nicht den Eindruck zu erwecken, sich von den DemonstrantInnen erpressen zu lassen. So wurden mittlerweile über 700 PolizistInnen des Aufstandes angeklagt und deren Gehälter eingefroren. Es wird offensichtlich versucht, der Bevölkerung zu vermitteln, dass allein die DemonstrantInnen an dem Ausnahmezustand Schuld sind und diese dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

Außerdem wurde von Paulo Hartung angekündigt, die Entstehung der Demonstrationen restlos aufklären zu wollen und die Polícia Militar weitgehend zu reformieren. Außerdem sollen die weit über 100 Morde restlos aufgeklärt werden.



Aktuelle Lage

Derzeit sieht es so aus, als ob die Behörden die Lage zum großen Teil im Griff hätten, zumindest in den größeren Städten und in den besseren Lagen. Insgesamt patrouillieren über 3000 Männer der Armee in den Straßen Espirito Santos und ein Teil der Polizei versieht wieder ihren Dienst. Einige Polizistinnen wurden sogar mit dem Helikopter aus dem Polizeirevier „befreit“, um so eine Konfrontation mit den Angehörigen zu vermeiden, die weiterhin vor den Ausgängen campieren.

Die Regierung hat große Angst davor, dass die Streiks auf andere Bundesländer übergreifen, so haben Angehörige der PolizistInnen in Rio de Janeiro bereits damit begonnen Zugänge zu Polizeiwachen zu blockieren.
Landesweit wurden Militärs in Alarmbereitschaft versetzt, um notfalls rasch reagieren zu können.

Es stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung grundlegende Änderungen in der inneren Sicherheit fordern wird, oder ob sie sich weiterhin mit der offensichtlich vorhandenen Gefahr abfindet und das Leben seinen gewohnten Lauf nimmt.


Quellen: