Die Mehrheit ist männlich, aus Rio,
zwischen 25 und 59 Jahre alt und verwendet Drogen
RIO- Wer an der Ecke der Straßen
Riachuelo und Silvio Romero im Zentrum von Rio vorbeikommt, wird den
51 Jährigen Romeo Humberto de Medeiros nicht von den anderen
Obdachlosen unterscheiden. Er ist ca. 170 groß, hat grünliche
Augen, hat schon in der Barra (da Tijuca, Stadtviertel in Rio, Anm.)
gewohnt und spricht Englisch und ein bisschen Französisch, Spanisch
und Italienisch. Wenn Romeo, den seinen Kollegen auf der Straße
„Professor“ nennen, darauf angesprochen wird, zitiert er den
deutschen Poeten und Schriftsteller Chales Bukowski und den Italiener
Niccolo Machiavelli, Autor des Werkes „Der
Fürst“. Er erzählt, dass er jahrelang in bekannten
Englischschulen gearbeitet hat, bevor er 2003 aus familiären Gründen
und wegen dem Alkohol obdachlos geworden ist.
Die Bevölkerung,
die zusehends auf den Straßen der Stadt wächst – es sind 6300
Personen, nach Schätzungen der Secretaria municipal de
Desenvolvimento Social (Stadtregierung, Abteilung für Soziale
Entwicklung, Anm.): eine Steigerung um 31,25 % in zwei Jahren – sie
hat Gesichter, die nicht bemerkt werden, wegen den zerlumpten und
dreckigen Körpern, die auf Kartons und Zeitungsresten auf den
Gehsteigen liegen. Was durch die Eile der Fußgänger verborgen
bleibt, offenbart eine Studie der Stadtregierung: die 22321
Befragungen, die von Jänner bis Dezember des vergangenen Jahres
gemacht wurden ergaben, dass die überwiegende Mehrheit der
Obdachlosen männlich, zwischen 25 und 59 Jahren, ohne Anstellung,
ohne Dokumente und Konsument irgendeiner Art von Droge ist.
Es sind Geschichten die sich
wiederholen, aber jeder Einzelne auf der Straße hat einen
dramatischen Hintergrund. Schließlich wird niemand von einem Tag auf
den anderen obdachlos. Was bringt jemanden dazu sein Bett mit
Kartonstücken zu tauschen? Wir haben die Daten geordnet und gehen
jetzt auf die Einzelheiten der Fälle ein. Die Menschen sind zu
unterschiedlich, um sie allgemein zu behandeln. Wenn jemand obdachlos
wurde, weil er seine Arbeit verloren hat, braucht er Zugang zu
Requalifizierungsmaßnahmen, zu Kursen. Wenn es wegen Drogen war,
besteht die Lösung aus einer speziellen Entzugsbehandlung.- erklärt
der secretário municipal de Desenvolvimento Social Adilson Pires,
der im April einen Public Policy Plan fertig haben möchte, um diese
Menschen zu betreuen.
Von allen befragten
Personen (Viele verlassen die Straßen und kommen später wieder
zurück, deshalb werden sie möglicherweise öfter als einmal
befragt) ist die große Mehrzahl direkt aus Rio. Aber fast ein
Drittel kommt aus anderen Gemeinden, auch aus anderen brasilianischen
Bundesstaaten. Es gibt sogar einige die aus anderen Ländern kommen.
Unter den wichtigsten Motiven, die als Gründe dafür angegeben
werden, sein zu Hause mit der Straße zu tauschen, benennen die
Obdachlosen familiäre Konflikte und Drogenkonsum.
Laut dem Secretário,
ist die Anzahl der Obdachlosen nicht nur größer geworden, weil die
Bevölkerung Rios insgesamt gewachsen ist, sondern auch weil die
Chancen auf größere Einkünfte in der Stadt, aufgrund der
Investitionen wegen der großen Events die hier stattfinden werden
nachdrücklich gewachsen sind. Dadurch werden Leute aus anderen
Gemeinden und sogar aus anderen Bundesländern angezogen, auf der
Suche nach guten Gelegenheiten. Um diejenigen wieder zurück in ihre
Städte zu bringen gibt es das Projekt „De volta à terra
natal“ (Zurück in die Heimat, Anm.). Dadurch
wurden allein zwischen 23. Jänner und 25. Februar 36 Personen mit
ihren Familien zusammengeführt, wobei die Rückreisen bezahlt
wurden, in manchen Fällen sogar eine Flugreise. Von den Rückkehrern
sind die meisten Erwachsene zwischen 30 und 59 Jahren (die Mehrzahl
Männer), aber es gab auch zwei Fälle von Kindern unter sechs
Jahren. Alle wollten nach Hause zu ihren Verwandten, die von
Mitarbeitern der Stadtregierung ausfindig gemacht wurden
zurückkehren, die große Mehrzahl in der Region Sudeste. Für die
Reisen wurden 7928,86 Reais bezahlt, wobei 6913 für Busreisen
ausgegeben wurden.
„Wir werden in Rio internationale
Events haben, die die Logik der „Hygienisierung“ inspirieren
könnten. Wir werden das so nicht durchführen, dass wir alle von der
Straße wegbringen, nur um sie nicht mehr da zu haben. Was werden wir
mit so vielen Leuten machen, nicht nur während der WM, sondern auch
während der olympischen Spiele? Wir müssen ihnen Alternativen
geben“ sagt Adilson. Die Befragungen finden täglich statt, an
verschiedenen Punkten der Stadt. Ein Großteil der Befragten
akzeptiert Obdachlosenunterkünfte, aber diese Orte sind keine
permanente Lösung.
Aber die Stadtregierung hat noch eine
große Herausforderung zu bewältigen, wissen diejenigen, die mit den
Obdachlosen arbeiten. Laut dem Sozialarbeiter Marcelo Jaccoud vom
Conselho Estadual de Assistência Social (Vertretung der
Sozialarbeiter, Anm.), sollten die Unterkünfte mit 3500 Plätzen
rechnen. Er spricht auch von einem Gesetz, dem Lei Federal 12.435/11,
das die Implementierung von Gemeinschaftszentren für Personen, die
auf der Straße leben und Unterkünfte mit maximal 50 Plätzen
vorsieht:
„Diese Maßnahmen garantieren die individuelle Betreuung die die Menschen brauchen. Es führt zu nichts diese Menschen zehn Mal zum selben Ort zu bringen ohne, dass sich eine Lösung der Probleme jedes Einzelnen findet.“
Weiter spricht Jaccoud davon, dass der
Mythos, dass diese Leute nicht von der Straße weg wollen nicht wahr
ist:
„Fast täglich betreue ich Menschen, die nach Unterkünften suchen und in vielen Fällen bin ich gezwungen zu sagen, dass es keine Plätze gibt. Es passiert häufig, dass die Leute von der Stadtverwaltung zu den Unterkünften gebracht werden, speziell zur Unterkunft Paciência, wo sie dann nicht hinein dürfen, weil es keine Plätze mehr gibt. Alle Obdachlosen sind aufgrund eines oder mehrerer Probleme auf der Straße gelandet. Keiner hat es sich einfach so ausgesucht. Sie brauchen die Aussicht darauf, dass sich ihr Leben bessern könnte.“
Glória Miranda, die Koordinatorin des
Centro Nacional de Defesa dos Direitos Humanos da População de Rua
(Nationales Zentrum für die Verteidigung der Menschenrechte der
Obdachlosen, Anm.), die Anzeigen von Obdachlosen aufnimmt, berichtet
von Fällen in denen Obdachlose sich an die Central de Recepção
(zentrale Vermittlungsstelle, Anm.) wenden, ein Organ des Stadtteiles
Ilha do Governador, und Tage auf einen Platz in einer Notunterkunft
warten. Und weiter: die Zeiten zu denen man in der Unterkunft bleiben
darf sind von 18 Uhr bis 7 Uhr. Danach sind die Obdachlosen dazu
gezwungen den Tag auf der Straße zu verbringen.
„Bei vielen Leuten kommt es dazu, dass sie auf eine Unterkunft verzichten. Außerdem haben wir Meldungen bekommen, dass Drogendealer in die Unterkunft Paciência einfallen,wenn sie Konfrontationen mit der Polizei aus dem Weg gehen wollen. Wir haben Informationen, dass die Dealer sogar die Mahlzeiten mit den untergebrachten Obdachlosen teilen“ sagt Gloria.
Zu den fehlenden Plätzen in den
Unterkünften teilt die Secretaria municipal de Desenvolvimento
Social mit, dass das Angebot kompatibel ist, mit den
Aufnahmeaktionen, die von der Stadtregierung im Rahmen einer Politik
der Wiedereingliederung der obdachlosen Bevölkerung durchgeführt
werden. Was die Central de Recepção betrifft, hat diese Einrichtung
das Ziel einen individuellen Handlungsplan für die aufgenommenen
Obdachlosen zu erstellen. Diese Arbeit umschließt
Wiedereingliederung in die Familien, Ausstellung von Dokumenten,
medizinische Behandlung und Betreuung durch ein multidisziplinäres
Team. Wegen diesen Serviceleistungen verlassen die Untergebrachten
die Unterkünfte während des Tages und kommen abends zurück um zu
übernachten. Die Secretaria teilt außerdem mit, dass es keine
Berichte von Drogenhandel im Zuständigkeitsbereich von Rio
Acolhedor in Paciência gibt.
(26.3.)
von Paula Autran, Waleska Borges
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