Freitag, 29. März 2013

Das Profil einer Bevölkerung, die die Straße zur Adresse hat

Die Mehrheit ist männlich, aus Rio, zwischen 25 und 59 Jahre alt und verwendet Drogen

RIO- Wer an der Ecke der Straßen Riachuelo und Silvio Romero im Zentrum von Rio vorbeikommt, wird den 51 Jährigen Romeo Humberto de Medeiros nicht von den anderen Obdachlosen unterscheiden. Er ist ca. 170 groß, hat grünliche Augen, hat schon in der Barra (da Tijuca, Stadtviertel in Rio, Anm.) gewohnt und spricht Englisch und ein bisschen Französisch, Spanisch und Italienisch. Wenn Romeo, den seinen Kollegen auf der Straße „Professor“ nennen, darauf angesprochen wird, zitiert er den deutschen Poeten und Schriftsteller Chales Bukowski und den Italiener Niccolo Machiavelli, Autor des Werkes „Der Fürst“. Er erzählt, dass er jahrelang in bekannten Englischschulen gearbeitet hat, bevor er 2003 aus familiären Gründen und wegen dem Alkohol obdachlos geworden ist.

Die Bevölkerung, die zusehends auf den Straßen der Stadt wächst – es sind 6300 Personen, nach Schätzungen der Secretaria municipal de Desenvolvimento Social (Stadtregierung, Abteilung für Soziale Entwicklung, Anm.): eine Steigerung um 31,25 % in zwei Jahren – sie hat Gesichter, die nicht bemerkt werden, wegen den zerlumpten und dreckigen Körpern, die auf Kartons und Zeitungsresten auf den Gehsteigen liegen. Was durch die Eile der Fußgänger verborgen bleibt, offenbart eine Studie der Stadtregierung: die 22321 Befragungen, die von Jänner bis Dezember des vergangenen Jahres gemacht wurden ergaben, dass die überwiegende Mehrheit der Obdachlosen männlich, zwischen 25 und 59 Jahren, ohne Anstellung, ohne Dokumente und Konsument irgendeiner Art von Droge ist.

Es sind Geschichten die sich wiederholen, aber jeder Einzelne auf der Straße hat einen dramatischen Hintergrund. Schließlich wird niemand von einem Tag auf den anderen obdachlos. Was bringt jemanden dazu sein Bett mit Kartonstücken zu tauschen? Wir haben die Daten geordnet und gehen jetzt auf die Einzelheiten der Fälle ein. Die Menschen sind zu unterschiedlich, um sie allgemein zu behandeln. Wenn jemand obdachlos wurde, weil er seine Arbeit verloren hat, braucht er Zugang zu Requalifizierungsmaßnahmen, zu Kursen. Wenn es wegen Drogen war, besteht die Lösung aus einer speziellen Entzugsbehandlung.- erklärt der secretário municipal de Desenvolvimento Social Adilson Pires, der im April einen Public Policy Plan fertig haben möchte, um diese Menschen zu betreuen.

Von allen befragten Personen (Viele verlassen die Straßen und kommen später wieder zurück, deshalb werden sie möglicherweise öfter als einmal befragt) ist die große Mehrzahl direkt aus Rio. Aber fast ein Drittel kommt aus anderen Gemeinden, auch aus anderen brasilianischen Bundesstaaten. Es gibt sogar einige die aus anderen Ländern kommen. Unter den wichtigsten Motiven, die als Gründe dafür angegeben werden, sein zu Hause mit der Straße zu tauschen, benennen die Obdachlosen familiäre Konflikte und Drogenkonsum.

Laut dem Secretário, ist die Anzahl der Obdachlosen nicht nur größer geworden, weil die Bevölkerung Rios insgesamt gewachsen ist, sondern auch weil die Chancen auf größere Einkünfte in der Stadt, aufgrund der Investitionen wegen der großen Events die hier stattfinden werden nachdrücklich gewachsen sind. Dadurch werden Leute aus anderen Gemeinden und sogar aus anderen Bundesländern angezogen, auf der Suche nach guten Gelegenheiten. Um diejenigen wieder zurück in ihre Städte zu bringen gibt es das Projekt „De volta à terra natal“ (Zurück in die Heimat, Anm.). Dadurch wurden allein zwischen 23. Jänner und 25. Februar 36 Personen mit ihren Familien zusammengeführt, wobei die Rückreisen bezahlt wurden, in manchen Fällen sogar eine Flugreise. Von den Rückkehrern sind die meisten Erwachsene zwischen 30 und 59 Jahren (die Mehrzahl Männer), aber es gab auch zwei Fälle von Kindern unter sechs Jahren. Alle wollten nach Hause zu ihren Verwandten, die von Mitarbeitern der Stadtregierung ausfindig gemacht wurden zurückkehren, die große Mehrzahl in der Region Sudeste. Für die Reisen wurden 7928,86 Reais bezahlt, wobei 6913 für Busreisen ausgegeben wurden.

„Wir werden in Rio internationale Events haben, die die Logik der „Hygienisierung“ inspirieren könnten. Wir werden das so nicht durchführen, dass wir alle von der Straße wegbringen, nur um sie nicht mehr da zu haben. Was werden wir mit so vielen Leuten machen, nicht nur während der WM, sondern auch während der olympischen Spiele? Wir müssen ihnen Alternativen geben“ sagt Adilson. Die Befragungen finden täglich statt, an verschiedenen Punkten der Stadt. Ein Großteil der Befragten akzeptiert Obdachlosenunterkünfte, aber diese Orte sind keine permanente Lösung.

Aber die Stadtregierung hat noch eine große Herausforderung zu bewältigen, wissen diejenigen, die mit den Obdachlosen arbeiten. Laut dem Sozialarbeiter Marcelo Jaccoud vom Conselho Estadual de Assistência Social (Vertretung der Sozialarbeiter, Anm.), sollten die Unterkünfte mit 3500 Plätzen rechnen. Er spricht auch von einem Gesetz, dem Lei Federal 12.435/11, das die Implementierung von Gemeinschaftszentren für Personen, die auf der Straße leben und Unterkünfte mit maximal 50 Plätzen vorsieht:

„Diese Maßnahmen garantieren die individuelle Betreuung die die Menschen brauchen. Es führt zu nichts diese Menschen zehn Mal zum selben Ort zu bringen ohne, dass sich eine Lösung der Probleme jedes Einzelnen findet.“

Weiter spricht Jaccoud davon, dass der Mythos, dass diese Leute nicht von der Straße weg wollen nicht wahr ist:

Fast täglich betreue ich Menschen, die nach Unterkünften suchen und in vielen Fällen bin ich gezwungen zu sagen, dass es keine Plätze gibt. Es passiert häufig, dass die Leute von der Stadtverwaltung zu den Unterkünften gebracht werden, speziell zur Unterkunft Paciência, wo sie dann nicht hinein dürfen, weil es keine Plätze mehr gibt. Alle Obdachlosen sind aufgrund eines oder mehrerer Probleme auf der Straße gelandet. Keiner hat es sich einfach so ausgesucht. Sie brauchen die Aussicht darauf, dass sich ihr Leben bessern könnte.“

Glória Miranda, die Koordinatorin des Centro Nacional de Defesa dos Direitos Humanos da População de Rua (Nationales Zentrum für die Verteidigung der Menschenrechte der Obdachlosen, Anm.), die Anzeigen von Obdachlosen aufnimmt, berichtet von Fällen in denen Obdachlose sich an die Central de Recepção (zentrale Vermittlungsstelle, Anm.) wenden, ein Organ des Stadtteiles Ilha do Governador, und Tage auf einen Platz in einer Notunterkunft warten. Und weiter: die Zeiten zu denen man in der Unterkunft bleiben darf sind von 18 Uhr bis 7 Uhr. Danach sind die Obdachlosen dazu gezwungen den Tag auf der Straße zu verbringen.

„Bei vielen Leuten kommt es dazu, dass sie auf eine Unterkunft verzichten. Außerdem haben wir Meldungen bekommen, dass Drogendealer in die Unterkunft Paciência einfallen,wenn sie Konfrontationen mit der Polizei aus dem Weg gehen wollen. Wir haben Informationen, dass die Dealer sogar die Mahlzeiten mit den untergebrachten Obdachlosen teilen“ sagt Gloria.

Zu den fehlenden Plätzen in den Unterkünften teilt die Secretaria municipal de Desenvolvimento Social mit, dass das Angebot kompatibel ist, mit den Aufnahmeaktionen, die von der Stadtregierung im Rahmen einer Politik der Wiedereingliederung der obdachlosen Bevölkerung durchgeführt werden. Was die Central de Recepção betrifft, hat diese Einrichtung das Ziel einen individuellen Handlungsplan für die aufgenommenen Obdachlosen zu erstellen. Diese Arbeit umschließt Wiedereingliederung in die Familien, Ausstellung von Dokumenten, medizinische Behandlung und Betreuung durch ein multidisziplinäres Team. Wegen diesen Serviceleistungen verlassen die Untergebrachten die Unterkünfte während des Tages und kommen abends zurück um zu übernachten. Die Secretaria teilt außerdem mit, dass es keine Berichte von Drogenhandel im Zuständigkeitsbereich von Rio Acolhedor in Paciência gibt.


(26.3.)
von Paula Autran, Waleska Borges

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