Vom 4. bis zum 11. Februar
2017 legte ein Streik der Polícia Militar in Espirito Santo große
Teile des öffentlichen Lebens lahm.
Insgesamt wurden in der Zeit des
Streikes 137 Menschen ermordet, das Bundesland, insbesondere die
großen Städte wirkten an einigen Tagen wie ausgestorben. Es gab
Überfälle, Plünderungen, Diebstähle, Fälle von Selbstjustiz,
viele Gerüchte und ein von Angst beherrschtes Klima.
Informationen über das Bundesland
und seine Hauptstadt:
Das brasilianische Bundesland Espirito
Santo ist ein kleines Bundesland, nördlich von Rio de Janeiro
gelegen. Im Westen grenzt es an Minas Gerais und im Norden an Bahia.
Espirito Santo wird der Großregion „Sudeste“ zugerechnet, die
außerdem die Bundesländer Minas Gerais, Rio de Janeiro und Sao
Paulo umfasst.
Espirito Santo hat insgesamt etwa vier
Millionen Einwohner. Wichtige Wirtschaftsbereiche im Bundesland sind
die Landwirtschaft, wobei vor allem Zuckerrohr, Kokosnüsse und
Kaffee angebaut werden. Außerdem haben die Viehzucht und der Bergbau
bedeutenden Einfluss auf die Wirtschaft Espirito Santos. In den
letzten Jahren ist die Marmor- und Granitproduktion stark gewachsen.
Das Bruttoinlandsproduktpro Kopf im Jahr 2014 betrug 33 148 Reais (ca. 10 000 Euro),
damit liegt das Bundesland in der Liste der anderen Bundesländer auf
Platz fünf.
Die Hauptstadt des Bundeslandes,
Vitória, ist eine für brasilianische Verhältnisse eher kleine
Stadt mit ca. 360000 Einwohnern. Der GroßraumVitoria, der außerdem aus den Städten Vila Velha, Cariacica und
Serra besteht, hat aber über 1,7 Millionen Einwohner.
Eigentlich geht in der Hauptstadt alles
einen für brasilianische Verhältnisse geordneten Weg und die die
Capixabas, so werden die Einwohner Vitórias genannt, sind stolz auf
ihre Stadt, auf die Wirtschaft, aber auch auf die subjektiv höhere
Sicherheitslage, als zum Beispiel in Rio de Janeiro.
In Rankings über die Lebensqualität
schneidet Vitória im Vergleich mit den anderen brasilianischen
Hauptstädten regelmäßig sehr gut ab, noch im September 2016 führte
sie die Listeder 27 brasilianischen Hauptstädte an.
Die Stadt liegt direkt am Meer und das
Zentrum liegt auf einer Insel. Vitória wird oft kleines Rio genannt,
weil es Rio landschaftlich ähnelt, neben Hügeln und Felsen, die
direkt am Meer liegen, gibt es einige kleinere Inseln. Außerdem
erinnert die Brücke Terceira Ponte, die übers Meer nach Vila Velha
führt an die Brücke Rio - Niterói.
Außerdem
ist Vitoria eine bedeutende Hafenstadt.
Neben dem Containerhafen im Zentrum, gibt es den Industriehafen
Tubarão, des multinationalen Konzerns Vale
S.A.(früher Companhia
Vale do Rio Doce - CVRD) der auch maßgeblichen
Einfluss auf die Wirtschaft Vitorias hat.
Obwohl das Wasser des wichtigsten
Strandes Vitórias (Praia de Camburi) meist zum Baden ungeeignet ist,
weil der Industriehafen direkt am Ende des Strandesliegt, ist er bei
den Bewohner der angrenzenden Viertel sehr beliebt und wird gerne für
sportliche Aktivitäten genutzt, aber auch um in der Sonne zu liegen,
zum flanieren oder um spätabends noch in Bars und Restaurants
auszugehen. Normalerweise ist der Strand im Sommer bis ca.
Mitternacht sehr belebt.
Vitória war auch vor dem Polizeistreik
keine sichere Stadt, aber wie überall in Brasilien ist man daran
gewöhnt, Nachrichten von Toten und Überfällen zu hören, trotzdem
nimmt das Leben seinen geregelten lauf. Oft betreffen diese
Nachrichten die eher ärmeren Viertel in den Umlandgemeinden. Immer
wieder hört man von der relativ hohen Mordrate. Sie lag in Espirito Santo 2014 bei 39,3Morden pro 100
000 Einwohnern. Das ist der höchste Wert der brasilianischen Region
Südosten.
Dabei ist auffällig, dass Serra (72,4)
Cariacica (57,5) und Vila Velha (49,2) besonders hohe Raten
aufweisen. In den letzten Jahren waren die Zahlen für Espirito Santo aber rückläufig.
Alles in allem kann man Vitória trotz
aller Probleme als lebenswerte Stadt bezeichnen und in der
Bevölkerung hat man nicht damit gerechnet, dass die Situation in so
kurzer Zeit dermaßen eskalieren könnte.
Was ist passiert?
Die Polícia Militar, (in der
Übersetzung Militärpolizei) begann am Samstag, dem vierten Februar
zu streiken. Eigentlich ist es angehörigen der Militärpolizei
verfassungsmäßig verboten zu streiken, das Verbot wurde aber
dadurch umgangen, indem offiziell nicht die Polizistinnen und
Polizisten streikten. Stattdessen wurden die Ausgänge der
Polizeiwachen von Verwandten der PolizistInnen besetzt. Dadurch wurde
es ihnen offensichtlich unmöglich gemacht, ihre Arbeit zu
verrichten. Trotzdem wurde der Streik nach kurzer Zeit von Gerichten
als illegal
eingestuft und auch der oberste Kommandant der Militärpolizei
Espirito Santos hat die Polizisten dazu aufgerufen, ihren Dienst
wieder anzutreten.
Zum besseren
Verständnis: Die brasilianische Polícia Militar ist keine Militärpolizei im eigentlichen Sinne (im
Gegensatz zur Polícia do Exército).
Sie ist eine Gendarmerie in den
einzelnen Bundesstaaten, die für die öffentliche Sicherheit
verantwortlich ist und die Aufgaben einer allgemeinen Polizei inne
hat. Sie ist dem Gouverneur unterstellt, aber militärisch
organisiert. In ganz Espirito Santo gibt es an die 10 000
Militärpolizisten.
Der Verdienst eines Angehörigen der
Polícia Militar in Espirito Santo liegt weit unter dem Durchschnitt
der anderen Bundesstaaten. Derzeit liegt das Einstiegsgehalt eines
Polizisten bei ca. 2600 Reais (ca. 780 Euro) brutto. Außerdem wurden
die Gehälter seit 2010 nicht mehr erhöht und seit 2014 nicht mal an die Inflationsrate
(in den letzten fünf Jahren lag die Inflation
in Brasilien jährlich zwischen sechs bis zehn Prozent) angepasst.
Darüber hinaus hat der Beruf grundsätzlich kein besonders hohes
Ansehen und ist auch oft gefährlich.
Was fordern die Angehörigen der
Polizisten?
Die wichtigste Forderung
ist, die Gehälter zu erhöhen und die Anpassung an die
Inflationsrate vorzunehmen. Aber auch Nachtdienstzuschläge und
Gefahrenzulagen werden verlangt.
Für Angehörige der Militärpolizei in
Espirito Santo gibt es keine eigene private Krankenversicherung,
obwohl der Beruf gefährlich ist. (In größeren brasilianischen
Firmen ist eine private Krankenversicherung oft Teil der Bezahlung)
Außerdem wird der schlechte Zustand
der Ausrüstung bemängelt. Anscheinend werden nicht alle
PolizistInnen mit schusssicheren Westen ausgestattet und der Zustand
der Streifenwagen ist in schlechtem Zustand, oft fehlen die Mittel,
um die Wägen ausreichend zu betanken.
Darüber hinaus werden auch vorgesehene
Beförderungen seit längerer Zeit nicht mehr durchgeführt.
Wer sind die Demonstrantinnen?
Hauptsächlich demonstrieren Frauen für die besseren Arbeitsbedingungen der
PolizistInnen. Es sind die Ehefrauen, Mütter, Freundinnen und
Schwestern der Polizistinnen und sie organisieren sich über soziale
Netzwerke, hauptsächlich über Whatsapp Gruppen. Die
Demonstrantinnen campieren vor den Eingängen vieler Polizeiwachen in
ganz Espirito Santo und verhindern damit, dass die Polizistinnen ihre
Arbeit versehen. Angeblich sind kaum Angehörige von höherrangigen Polizisten unter den
Protestierenden.
(Quelle:
http://www.folhavitoria.com.br/geral/noticia/2017/02/mulheres-de-policiais-continuam-fechando-batalhoes-no-espirito-santo.html
TV Vitoria)
Bevölkerung:
Die Bevölkerung steht den Ereignissen
großteils machtlos gegenüber. In den ersten Tagen überschwemmen
Videos und Bilder von gewalttätigen Übergriffen, Schusswechseln,
Plünderungen, usw. die sozialen Netzwerke.
Die Rufe nach Selbstjustiz werden
lauter, es ist gängige Meinung, dass sich die Bevölkerung mit
Waffen selbst schützen sollte, wenn die Polizei dazu nicht in der
Lage ist. Viele Gerüchte und Übertreibungen machen die Runde, die
Lage ist aber wirklich außer Kontrolle und wer nicht außer Haus
muss, bleibt zu Hause.
Allein am 6. Februar wurden 40 Menschen ermordet, am 7. noch immer 22.
Im Vergleich dazu wurden im Jänner durchschnittlich vier Menschen
pro Tag ermordet. Die Opfer sind zu 90 % männlich, der Großteil zwischen 17 und 20
Jahre alt und durch eine Schusswaffe ermordet.
Die Anzahl der Todesopfer erreichte ein
so großes Ausmaß, dass sogar die Kühlräumlichkeiten der
Gerichtsmedizin an ihre Grenzen kamen.
Mittlerweile gibt es einen Bericht von CBN, dass ein großer Teil der Toten auf illegale
Todesschwadrone der Polizei zurückgehen könnte. Die brasilianischen
Bundespolizei Polícia Federal hat Ermittlungen eingeleitet.
Derartige Gruppierungen könnten den
Streik ausgenützt haben, um sich an Rivalen zu rächen. Es wäre
nicht das erste Mal, dass in Espirito Santo derartige Gruppierungen
ihr Unwesen treiben: So war die paramilitärische LeCocq, die während der Zeit der Militärdiktatur in Rio gegründet
wurde, bis in das Jahr 2005 in Espirito Santo aktiv.
Darüber hinaus wurden im Zeitraum des
Streikes über 600 Fahrzeuge gestohlen, (nur am Montag dem 6. Februar wurden 200
KfZ gestohlen, im Durchschnitt 20 täglich) und 300Geschäfte geplündert.
Geschäfte, Schulen und Krankenhäuser
blieben teilweise geschlossen. Der öffentliche Busverkehr kam
Großteils zum erliegen, nachdem am 5. Februar Busse in Brand gesetzt wurden und später Busfahrer bedroht wurden, den
Verkehr einzustellen, da ansonsten wieder Brandanschläge verübt
würden.
Viele Städte in Espirito Santo wirken
zu Beginn der Streikwoche wie ausgestorben, Angst und Ratlosigkeit
greifen um sich. In den sozialen Netzwerken verschaffen sich die
Bewohner Gehör.
Der Hashtag #espedesocorro (Espirito
Santo bittet um Hilfe) wird dazu verwendet um Meinungen kundzutun,
aber auch um Videos und Bilder zu teilen. Die großen Medien
berichten anfangs extrem zurückhaltend, oder gar nicht über die
Vorkommnisse, die Bewohner fühlen sich vergessen. Auch der
brasilianische Präsident Michel Temer meldet sich erst nach einer Woche zu Wort.
Ein Kritikpunkt der Bevölkerung ist
auch, dass es offensichtlich gab es keinen Notfallplan für den Fall eines Streikes gab.
Erst ab Montag (6.2.) greifen die
großen Medien des Landes die Ereignisse verstärkt auf und es wird
noch am selben Tag beschlossen das Heer und einige Spezialeinheiten
nach Vitória zu schicken.
Später am Abend kursieren bereits
Bilder von bewaffneten Soldaten, die Leute festnehmen, Panzern und
militärischem Gerät in den Straßen von Espirito Santo. Wie immer
werden die besseren Viertel der Stadt bevorzugt, in den ärmeren und
ländlicheren Bereichen dauert es länger, bis das Heer
einmarschiert.
Politischer Hintergrund
Der aktuelle Gouverneur Espirito
Santos, Paulo Hartung wurde 2014 zum dritten mal in das Amt gewählt.
Er ist seit kurzem aus der Partei des brasilianischen Präsidenten Michel
Temer PMDB
ausgetreten. Seine Karriere hat er aber in der PMDB begonnen, um
danach eines der Gründungsmitglieder der PSDB
zu werden, außerdem war er danach auch Mitglied der Parteien PSB
und PPS,
um 2005 wieder in die PMDB einzutreten.
Seit 2015 fährt Hartung eine strenge Haushaltspolitik. Viele öffentliche Ausgaben wurden eingefroren,
und die Mittel für den Haushalt 2016 um 1,3 Milliarden Reais (ca.
390 Millionen Euro) gekürzt.
Der Gouverneur war während des
Ausbruchs der Sicherheitskrise in São Paulo wegen eines Blasentumors
in Behandlung und kehrt erst am 7. Februar nach Espirito Santo
zurück.
Nach seiner Rückkehr macht die
Regierung alles, um nicht den Eindruck zu erwecken, sich von den
DemonstrantInnen erpressen zu lassen. So wurden mittlerweile über
700 PolizistInnen des Aufstandes angeklagt und deren Gehälter eingefroren. Es wird offensichtlich
versucht, der Bevölkerung zu vermitteln, dass allein die
DemonstrantInnen an dem Ausnahmezustand Schuld sind und diese dafür
zur Rechenschaft gezogen werden.
Außerdem wurde von Paulo Hartung
angekündigt,
die Entstehung der Demonstrationen restlos aufklären zu wollen und
die Polícia Militar weitgehend zu reformieren. Außerdem sollen die
weit über 100 Morde restlos aufgeklärt werden.
Aktuelle Lage
Derzeit sieht es so aus, als ob die
Behörden die Lage zum großen Teil im Griff hätten, zumindest in
den größeren Städten und in den besseren Lagen. Insgesamt
patrouillieren über 3000 Männer der Armee in den Straßen Espirito
Santos und ein Teil der Polizei versieht wieder ihren Dienst. Einige
Polizistinnen wurden sogar mit dem Helikopter aus dem Polizeirevier „befreit“, um so eine Konfrontation mit
den Angehörigen zu vermeiden, die weiterhin vor den Ausgängen campieren.
Die Regierung hat große Angst davor,
dass die Streiks auf andere Bundesländer übergreifen, so haben
Angehörige der PolizistInnen in Rio de Janeiro bereits damit
begonnen Zugänge zu Polizeiwachen zu blockieren.
Landesweit wurden Militärs in
Alarmbereitschaft versetzt, um notfalls rasch reagieren zu können.
Es stellt sich die Frage, ob die
Bevölkerung grundlegende Änderungen in der inneren Sicherheit
fordern wird, oder ob sie sich weiterhin mit der offensichtlich
vorhandenen Gefahr abfindet und das Leben seinen gewohnten Lauf
nimmt.
Quellen: